Der 2. Weltkrieg von Palaestina aus gesehen. Aus meinen Tagebuchnotizen. Typoskript. Jerusalem, 1957. Titelblatt und 136 einseitig beschriebene Blätter mit zahlreichen kleinen, handschriftlichen Korrekturen. Einfache, handschriftlich mit dem Titel versehene Broschur der Zeit, 27,5 x 21,8 cm.
Sehr selten für uns über den KVK nur in der Anne-Frank-Shoah-Bibliothek und im Exilarchiv Frankfurt nachweisbar, dort allerdings in kleinerem Format und dadurch anderer Blattzahl. Paul Mühsam (1876 - 1960), ein Cousin des Schriftstellers Erich Mühsam, hatte sich nach dem Jurastudium und der Promotion 1909 als Rechtsanwalt in Dresden niedergelassen. Nach dem Ersten Weltkrieg lebte er in Görlitz und war als Anwalt und Schriftsteller tätig. 1933 wurde ihm die Anwaltslizenz entzogen, seine Bücher wurden verbrannt. Im September 1933 gelang ihm, zusammen mit seiner Frau, die Auswanderung nach Palästina. Die hier vorliegenden Tagebucheinträge, beginnend am 1.1.1939 und endend mit einem Eintrag am 18.8.1945, analysieren nicht nur den Verlauf des Krieges sondern auch die politische Situation in Deutschland, Palästina und in der Welt, die Ziele der Nationalsozialisten und ihren Antisemitismus: "30.1. hoerten wir im Radio die Reichstagsrede von Hitler, das Gebruell eines Besessenen. Das Infamste ist seine Heuchelei, masslos sein tierischer Judenhass." In Hitlers Drohung das "Weltjudentum" zu vernichten, sollte es noch einmal die Völker in den Krieg hetzen, erkennt Mühsam eine erbarmungslose Strategie: "Hitler weiss, welche Furcht das Volk vor dem Wahnsinn des naechsten Krieges hat … und dass es empoert sein wird ueber den, der ihn entfesselt … um schon jetzt die Schuld von sich abzuwaelzen, lenkt er die Empoerung auf die Juden. Wenn dann alle Juden ermordet sein werden, will er sagen koennen: Seht, die Schuldigen haben gebuesst" (Seite 1 f.). Die Einträge spiegeln zunächst die Besorgnis, Hitler könnte einen Weltkrieg entfesseln ("weil Deutschland sich vollstaendig in Aufruestung verausgabt hat und vor leeren Kassen steht"), dann das Hoffen auf den Widerstand Englands und eine Revolution in Deutschland (Seite 10), das Entsetzen über den Hitler-Stalin-Pakt, die Teilung Polens und die Deportationen. Im Mai 1940 befürchtet Mühsam, dass England besetzt wird, im Juni hält er fest: "Niederschmetternde Nachricht, dass Frankreich nicht weiterkaempfen kann". Verzweiflung, Bangen und Hoffnung ("bin ich ueberzeugt, dass wenn England noch ein paar Wochen durchhaelt, es ueber den Berg ist"; "Der Mensch gewoehnt sich zwar an alles, auch an die wiederkehrenden Bombardements" in Haifa) wechseln; im April 1941 - die Deutschen rücken in Ägypten unaufhaltsam vor (dann "kommt Palaestina an die Reihe"; "es ist schwer, sich endgueltig mit dem Tod abzufinden") - scheint ein Sieg Englands unmöglich geworden zu sein. "Die Menscheit … koennte im Paradies leben und weiss nichts besseres zu tun, als sich zu zerfleischen." (Seite 77). Mühsam analysiert die ökonomischen Gründe (Weizen und Öl) der deutschen Kriegserklärung an Russland, bewundert den Widerstand der Russen und kann 1943 erleichtert feststellen, dass sich das Blatt gewendet hat. 1945 macht sich Mühsam Gedanken über die Angst der Deutschen vor dem Siegeszug der Russen und die Kollektivschuld ("Deutschland hat sich selbst aus der Reihe der Kulturvoelker gestrichen und hat geistigen Selbstmord begangen"). Mühsams Aufzeichnungen zeigen den Zweiten Weltkrieg aus einer besonderen Perspektive: der eines Exilanten, der seiner Heimat beraubt wurde, der eines Juden, der hilflos die Vernichtung der europäischen Juden mitansehen muss, der eines palästinensischen Bürgers, der Übergriffe und dauernde Bombardements erlebt und der des politischen Beobachters, der die Interessen aller Kriegsparteien, insbesondere auch der arabischen Staaten anaysiert. Insofern sind diese Tagebuchnotizen ein bedeutsames Dokument neuerer deutscher Geschichte.
950,- EUR
inkl. 7% USt.
Sachgebiete: Exilliteratur, Handschriften, Judaica, Orient, Weltkrieg
Kontakt zum
Kronberger Straße 20 • 14193 Berlin
Telefon: +49 30 824 22 89
Mail: antiquariat-tasbach@t-online.de • Web: https://www.tasbach-rare-books.com
Mobil: +49 172 313 20 88
Wir freuen uns über Ihren Besuch, bitten aber um vorherige Terminvereinbarung.
Zu unseren Spezialgebieten: Handschriften (Reiseberichte, Tagebücher, Rezeptbücher, Militärgeschichte, Naturwissenschaften etc.), Zeichnungen und Entwürfe (Architektur, Design, Reise-Skizzenbücher etc) und Bücher (Staatswissenschaften und preussische Geschichte) erscheinen regelmäßig Kataloge, die wir Ihnen gerne zusenden.